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Kurzgeschichten

Inhaltsverzeichnis

Der letzte Walzer

Der letzte Walzer

Der Fahrer öffnete die Türen, man konnte das Quietschen sogar durch die Kopfhörer hören. Ich blickte über die Sitzreihen hinweg – kommt da wer, den ich kenne? Ich blickte auf mein Handy, übersprang das Lied und wartete gespannt – auf die Musik und wer wohl kommen möge. Da sah ich sie. Ein junges Mädchen stieg ein, nicht sehr groß, aber dennoch machte sie mich beim ersten Blick neugierig auf mehr. Auch wenn ich mir nie etwas auf eine Begegnung im Bus eingebildet habe, so muss ich zugeben, war ich in gewisser Weise schockiert, als sie den Gang entlanglief, denn einen kurzen Moment lang begegnete mein Blick dem ihren. Ganz kurz fühlte ich dieses tiefe Verlangen, dass sie sich zu mir setzt. Sie lächelte kurz, nur ganz kurz, ich lächelte zurück, doch kaum einen Moment später wandte sie sich ab und setzte sich einige Reihen vor mich. Das Lied begann, es ging nur wenige Sekunden, da erkannte ich es. Nicht mein Lieblingslied, aber passend. Ich blickte vor mich hin, verbarg meine Neugierde mit aller Kraft, doch ihr Lächeln hatte mich berührt. Es war wenig, doch war es so viel. Ich spürte, wie die Reifen langsam ihren Druck erhöhten, bis der Bus wieder im Gleichgewicht war. So einfach war es – dachte ich mir – etwas so Großes zu kippen und dann wieder mit Balance zu versehen, mit nur einem Knopfdruck. Machte ich mir zu viel Gedanken über Busse? Vielleicht. – Jedenfalls setzte er sich in Bewegung und meine Augen verfolgten die vorbeiziehenden Häuser und die Landschaft, die sich nun formte, da wir langsam die Stadt verließen und uns immer weiter hinaus aufs Land begaben. Und wie mir die Sonne aufs Gesicht schien, so wendete ich es ab vom Fenster und erblickte das braune Haar, das sich sanft wellte und glänzte. Das Mädchen mit den Locken. Ich sah sie nicht mehr von vorne, doch meine Gedanken kreisten plötzlich rund um das Lächeln ohne Möglichkeit, mich von diesem Gedanken abzuwenden. Er ergriff Besitz von mir. Warum konnte ich mich nicht wehren? Nun, weil ich es nicht wollte. Ich ließ es zu, dass ihr Antlitz meinen Geist eroberte, dass sie meinen Kopf kontrollierte. Da sah ich es vor mir: ein weit entferntes Land, ein Meer, das sich vor mir erstreckte. Vor mir stand sie, das Mädchen mit den Locken. Sie trug ein weißes Gewand und hielt meine Hand, ein Schleier verbarg ihr Gesicht. Eine Violine spielte festliche Musik, Tanzmusik, und das Mädchen mit den Locken führte mich an den Strand, der Klang der Wellen ertönte in einem musikalischen Zusammenspiel mit der Violine, da packte sie mich, hielt mich nah an ihre Brust und begann zu tanzen. So tanzten wir den ganzen Abend, bis die Sonne den Himmel errötete und eine sanfte Brise ihr Haar spielen ließ, sodass ihre weichen Strähnen in mein Gesicht flogen und ich den Duft kräftiger Rosen riechen konnte. Und wie sie nicht aufhören wollte, verbrachten wir die Wochen, Monate und Jahre damit, am Strand zu tanzen und zu liegen, unberührt von den Grausamkeiten der Welt. Bald spielten Kinder im Sand, bauten Burgen und sie hatten braune lockige Haare und ein Gesicht, das meinem glich. Wie nun so langsam das Alter eingesetzt hatte, da wurde unsere Verbundenheit nur stärker und nichts würde uns trennen können, auch der Tod nicht. Wie meine Gedanken so dahinflogen, blickte ich nur auf sie, die Violine harmonisch zu dem Lied spielend, dass seit ihrem Einstieg durch meine Kopfhörer zu hören war. Als ich gerade den letzten Walzer mit ihr beim Sonnenuntergang beendet hatte, stand sie auf und stieg aus.

Wasserfälle im Wald
Nachtjagd

Die Nachtjagd

Das Unterholz brach und die Blätter raschelten laut, als sie geschmeidig durch den Wald schlich. Ihre Muskeln angespannt, die Ohren hochgespitzt, um jeglicher Gefahr vorzubeugen und um von nichts überrascht zu werden. Es war dunkel, man hätte seine eigenen Hände nicht gesehen, doch sie blickte durch die Bäume, über Hügel hinweg, nach der Beute suchend. Die Sterne am Himmel begleiteten sie und wiesen ihr den Weg. Am hellsten leuchtete der eine, den sie schon vor Jahren entdeckt hatte. Er war ihr persönlicher Freund geworden, ein Gefährte, durch Dick und Dünn waren sie gegangen. Und wenn sie ihn nicht gesehen hatte, dann kam er immer ganz kurz zum Vorschein, wenn die Wolken Löcher hatten. Er war ihr Partner, ihr Gehilfohne ihn wäre sie hilflos. Dieser Stern war auch heute mit ihr unterwegs, leuchtete ihr den Weg zum Ziel, über Felsen und Wiesen, Felder und Hügel. Er zeigte ihr die Wasserquelle, an der sie rasten konnte, wenn die Nacht wieder länger war und die Jagd ermüdend. Erfrischend war das Wasser, dass aus der Quelle schoss und sich in einem Teich sammelte. Hier schlief sie manchmal, wenn sie noch nichts gefunden hatte, denn sie wollte nicht ohne Beute nach Hause zurückkehren. Angst brauchte sie nicht zu haben, denn der Stern wachte über sie und wenn er am nächsten Morgen in der Dämmerung verblasste, so sah sie ihn trotzdem noch, wie er ihr noch einen letzten Schein zuwarf, um sich zu verabschieden, bis die nächste Nacht beginnen würde. Freunde – das waren die beiden. Unzertrennlich. Und so jagte sie auch diese Nacht, behütet vor allen Feinden, da ihr Liebster bei ihr war. Über bekannte Wege führte er sie. Sie kam am großen Stein vorbei, an dem sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie legte ihre Pfote auf den Stein, durch ihn fühlte sie die brennende Liebe, die ihn durchströmte. Wenn sie dann auf den Stein kletterte, dann sah sie die Umgebung. Weit war sie und der Horizont lag in der Ferne, die Nacht ließ sie trotz der Hilfe, die ihr Stern ihr gab, nicht sehen, wo die Erde aufhörte, doch schien sie endlos für sie. Ihre Augen funkelten bei dem Anblick in die Ferne, die Sehnsucht nach ihrem Freund, bei ihm zu sein, überkam sie jedes Mal. Doch da leuchtete er heller, um ihr zu zeigen, dass er, auch wenn sie sich nicht berühren könnten, immer da wäre für sie, in der Not und im Augenblick der Freude und des Glücks. Er war da, auch heute. So streifte sie weiter durch den Wald, ihr Liebster über ihr. Gemeinsam beherrschten sie Himmel und Erde. Bald – das war ihr bewusst – würde sie ihn besuchen kommen, dann wären sie endlich vereint und könnten zusammen am Himmel anderen den Weg leuchten als ein Paar, wie sie es sich schon so lange gewünscht hatte. Die Stunden vergingen und von Sehnsucht und Liebe entbrannt jagte sie die ganze Nacht. Als sich der Mond gen Horizont senkte und von Osten die Morgenröte den Himmel färbte, ging sie zurück. Noch ein letztes Mal, bevor sie durch die Klappe ihr Zuhause betrat, die Beute im Mund, neigte sie ihren Kopf zum Himmel. Blau und Weiß schien dieser ihr entgegen, doch inmitten der unendlichen Weiten des blauen Himmelskörpers blitzte ein gelber Stern auf, bevor auch er verblasste. Da dachte sie: „Bis heute Abend, mein Freund!“

Die Begegnung

Es begegneten sich zwei, die waren aus unterschiedlichem Hause. Der eine wuchs als Waise auf, der andere war wohlversorgt gewesen seit Kindestagen. Einer der beiden war glücklich, der andere nicht. Einer der beiden war um die Welt gereist, der andere war daheim geblieben. Sie trafen sich auf der Straße, der eine zog höflich den Hut, doch der andere würdigte ihm keines Blickes. Die Entfernung wurde größer, bis der eine über den Horizont hinauslief und der andere nach Hause ging.

Wald im Herbst
Die Teetrinker

Die Teetrinker

Er stellte sie sich vor: teetrinkend, weit entfernt. Gebildet müssen sie sein, wahrscheinlich mit einer langjährigen Ausbildung. Strategen waren sie – im Dienste des Kaisers von Japan –, am Tisch werden sie wohl gerade sitzen, ihre Figürchen bewegend, abwechselnd, doch vergaßen sie dabei, dass es kein Schachspiel war.

Er hatte gelesen, dass die Männer auf der anderen Seite der Erde verloren hatten, schon vor ein oder zwei Monaten war das gewesen. Also fragte er sich, warum er noch hier sein müsse. Seine Frau und die beiden Töchter – schön waren sie, denn sie kamen nach ihrer Mutter – warteten bestimmt schon auf ihn. Inzwischen waren es zwei Jahre… oder drei? Vier waren es.

Er lief mit den anderen auf den großen Platz, dort hatte man einen schönen Blick über den Fluss auf die Stadt. Sie war nicht groß, aber die Strategen, wegen denen er hier war, meinten, dass sie wichtig sei. Wofür auch immer. Es kümmerte ihn nicht.

Er sah Männer, denen Arme und Beine fehlten. Sie lagen in einem großen Zelt. Die Orte, woher sie kamen, hatte er nie gesehen, nur von ihnen gehört. Er bekam Angst bei dem Gedanken, auch einmal dorthin zu müssen. Also wandte er sich ab und reihte sich ein. Der Mann ganz vorne – er trug eine herrliche Uniform – sprach sehr lange. Es ging um Ehre. Doch was war das für eine Ehre, fragte er sich. Wie sollte das, was er tat, ehrenvoll sein. Doch auch das kümmerte ihn nicht.

Er stand nur da, mit dem einen Ohr zuhörend und blickte in den Himmel. Wenige Wolken waren zu sehen – der schönste Tag seit langem. Er schloss die Augen, überhörte die Stimmen, die ihn umgaben, und spürte das Meer. Er dachte an seine Familie, die er bald sehen werden würde – das hatte man ihm versprochen. Die Bienen summten um ihn herum, als sie seine Honigfarm verließen. Hart hatte er gearbeitet, um sie sich leisten zu können. Sie war sein ganzer Stolz. Er war nie verreist und hatte gespart. Die kleine Hütte auf der Südseite der großen Insel, wo die Familie gerade ahnungslos saß und wartete, war seine Heimat. Er liebte sie und man hatte ihm befohlen, sie zu verlassen, um seine, aber auch die Heimat aller anderen, die mit ihm hier und heute versammelt waren, zu verteidigen. Wie kleine Schäfchen standen sie herum, machtlos gegen die Spielchen, die die Teetrinker mit ihnen spielten.

Gerade hatte der Mann seine Rede beendet, da ertönte plötzlich laut die Sirene. Doch sie kam zu spät. Am Himmel sahen sie es: ein Flugzeug. In großer Höhe überflog es die Stadt und einige Augenblicke später sahen die Männer ein glänzendes Objekt, das sich wie ein Pfeil durch die Himmelsschichten bohrte. Und während die weit entfernten Männer gerade ihre Partie beendet hatten, dachte er noch ein letztes Mal an seine Frau und seine Töchter.

Eine ewige Pause

Sie saßen. Nah beieinander. Weit oben auf dem Hügel, auf dem sie sich das erste Mal sahen. Es schien, als läge alles zu ihren Füßen. Doch sie waren satt von den engen Gassen und den altbekannten Winkeln. So blickten sie über die Dächer hinweg, zwischen den Bergen hindurch, auf eine weite Landschaft hinaus, deren Horizont blau verblasste, bestückt mit noch höheren Bergen als jene, die sie beide zusammen schon alle erklommen hatten. Hinter diesen würde das Meer warten und dahinter das Paradies. – Eine kleine Pause, doch sie saßen ewig und träumten.

Die Begegnung
Die Verfolgung

Die Verfolgung

Ein leichter Wind blies mir um die Ohren, als ich den Wald durchstreifte. Obwohl ich diesen Weg auch gestern und vorgestern gegangen war, merkte ich es nicht. Meine Augen wachten zwar über mich, um nicht zu fallen und nicht abseits der Wege zu gehen, doch mein Geist irrte herum, unwissend über Sinn und Grund. Er war gefangen. Gefangen von meinen Ängsten, vernebelt von meinen Gedanken, geplagt von meinen Schmerzen. Ich litt, doch wusste ich nicht warum. Ich wollte keine Hilfe, da ich mich meiner Ziellosigkeit schämte. Schon seit langem schmeckte das Essen nicht mehr, der Duft von Blumen war mir fremd geworden und auch heute durchfuhr mich nicht die frische Luft, die mich in der Vergangenheit befreit hatte.

Ich war allein unterwegs, doch die Grausamkeiten des Lebens waren mir auf der Spur. Ich wollte fliehen, doch wohin? Mein Verfolger saß mir im Nacken. Ich suchte Möglichkeiten, mich zu verstecken. Doch wo auch immer ich versuchte, ihm zu entkommen, fand er mich und jagte mich weiter. Also lief ich schneller und schneller – Da drehte ich mich um. Ich blickte meinem Verfolger tief in die Augen. Ekel überkam mich, als ich das Spiegelbild meiner selbst vor mir sah. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte ich Leben durch meinen Körper strömen, Mut und Kraft zurückkehren. Dann kehrte ich meinem Verfolger den Rücken zu und war froh, mich ihm gestellt zu haben.

Eine ewige Pause
Lebenslange Träume

Lebenslange Träume

Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden. Nur die Lichter der Stadt erhellten jetzt den Äther. Der gelbliche-weiße Schein verlief sich in der dunkelblauen Farbe des Himmels. Dort, wo das Licht nicht so stark war, konnte man die Sterne sehen. Er griff nach ihnen, doch konnte sie nicht fassen. Dabei waren sie doch so nah?

Er wollte unbedingt raus, weg von der Enge der Gassen, in denen er lebte, doch sein Zuhause waren sie nicht. Genau wusste er nicht, wo sein Zuhause war. Um dem Gefühl von Heimat am nächsten zu kommen, fuhr er oft raus aufs Land, am liebsten in die Berge. Von dort aus konnte er weit sehen, über die Grenzen der Region hinaus. Manchmal stellte er sich vor, dass hinter dem Horizont das Meer auf ihn warten würde.

Wie er jetzt im Gras lag, die kühle Brise im Gesicht spürte und das Universum über sich betrachtete, verlor er sich in Gedanken und vergaß die Zeit. Irgendwann aber stand er auf und kehrte zurück in die Gassen, die nicht seine Heimat waren.

Später kam er einmal an den Ort zurück, an dem er immer gelegen hatte. Dann dachte er darüber nach, was er für ein Held hätte werden können, wenn er sich damals ein Herz gefasst hätte, was für ein Leben er hätte führen, wie er die richtige Liebe hätte finden und glücklich hätte werden können. Und so verging sein Leben. Seine Träume… nur eine Illusion.

Nur zu Besuch

Nur zu Besuch

Er starrte. Erneut. Ebenso wie gestern. War es Magie? War es ein Zauber? War es Hexerei? Er hatte keine Antwort. Doch er spürte den Zwang, zu erstarren und zu starren. Er tat es gerne, das konnte er nicht leugnen. Oftmals starrte er so lange, bis der aggressive Fahrstil des U-Bahn-Fahrers ihn in die Realität zurückholte. Doch er wollte nicht zurück in die Realität. Er wollte diesen Moment… für immer.

Zum ersten Mal hatte er sie vor einigen Wochen gesehen. Sie war nicht von hier, das sah er. Sie war anders gekleidet, sie bewegte sich anders und sie hatte ein für diese Stadt ungewöhnlich fröhliches und liebenswürdiges Lächeln. Sie musste zu Besuch hier sein. Einen Monat? Vielleicht zwei?

Er hatte seinen Freunden von ihr erzählt, doch als er gefragt wurde, konnte er ihnen nicht erklären, warum er nur starrte, nicht aufgestanden und nicht zu ihr gegangen war.

Es war Angst, die ihn zurückhielt. Die Angst davor, abgewiesen zu werden. Seine passive Haltung war ihm sicherer. Also machte er weiter, starrte auch heute nur und hoffte, dass sie am nächsten Tag noch da sein werde und dass er endlich den Mut aufbringen würde, sie anzusprechen. Er wusste, dass jeder Tag der letzte sein könne. Sie könnte einfach gehen und nie wiederkommen.

So wartete er morgen – wie jeden Tag – auf die Haltestelle, an der sie einstieg. Doch als die U-Bahn hielt, tat er es: Er stand auf, kämpfte sich durch die Massen und ließ seinen Blick über die Menschen schweifen, auf der Suche nach ihr. Doch… sie stieg nicht ein. Er wusste: Sie war weg. Was er nicht wusste: Sie hatte gestarrt, wenn er wegsah.

Verkehr Langzeitbelichtung
Der Bankier

Der Bankier

Es war ein früher Morgen, der Duft von frisch gebackenen Brötchen und modrig riechenden Vorkriegshäusern wehte durch die Straßen. Im Osten ragten die Schornsteine aus Backstein hervor, welche unaufhörlich schwarzen Rauch über der Stadt verteilten. Kaum hatte sich das Sonnenlicht zwischen den Industrieanlagen durchgequetscht, brummten die ersten Autos und Lastwagen durch die Stadt, alle auf dem Weg zur Arbeit oder von der Arbeit nach Hause. Der Tag löste die Nacht ab und die Autos reihten sich wie Ameisen auf den Straßen und bewegten sich im Verkehrsnetz der Stadt fort, alle einem Ziel entgegen, um dann am Abend den gleichen Weg wieder zurückzufahren, auf den nächsten Morgen zu warten und diesen Ablauf zu wiederholen.

Sie alle dienen einem höheren Zweck, der den meisten gar nicht greifbar scheint. So auch ein Bankier, der sich wie alle anderen heute Morgen in sein Auto gesetzt hatte und nun den altbekannten Weg zum Büro befährt.

Wie er gerade an den Feierabend denkt, verliert der Wagen neben ihm die Kontrolle, kracht in die Leitplanke und überschlägt sich. Schockiert hält der Bankier an, steigt aus, läuft zu dem Fahrzeug und öffnet die beschädigte Tür. Der Fahrer ist tot, wird ihm schnell klar. Einige Menschen fahren vorbei, würdigen der Szene keinen Blick, andere wiederum bremsen ab, um das zerbrochene Auto und den Toten zu sehen. Doch auch sie halten nicht an, da keiner zu spät kommen will.

Der Bankier blickt in den Wagen und nimmt die Brieftasche des Toten. Er liest seinen Namen und sieht ein Foto von diesem und dessen Familie. Daraufhin legt er die Brieftasche zurück, setzt sich in sein Auto und fährt zur Arbeit.

Am Abend fuhr er die gleiche Strecke zurück. Als er an der Unfallstelle ankam, war das Auto verschwunden, als wäre nichts geschehen.

Der Bankier kam am nächsten Tag nicht mehr zur Arbeit.

Nacht im Herbst

Eine Nacht im Herbst

Am Abend eines Tages im späten Herbst fuhr ein Mann von der Arbeit heim. Er war müde und es war schon längst dunkel, ein modrig riechender Regen tropfte auf die Windschutzscheibe, die Straße war bedeckt mit braun-gelbem Laub. Der Weg nach Hause führte ihn von der Stadt weit raus durch den Wald. Inzwischen kannte er die Kurven in- und auswendig, sodass er mehr damit beschäftigt war, die Nachricht seines Vorgesetzten zu lesen als auf die Straße zu achten. Er wusste, dass um diese späte Uhrzeit kaum jemand auf dieser Straße fuhr. Doch als wäre der Regen nicht genug, legte sich plötzlich ein dichter Nebel über den Wald. Abgelenkt wie er war, übersah er die Bewegungen und das Huschen vor ihm. Erst, als er kurz den Kopf hob, realisierte er: Rehe überquerten nur wenige Autolängen vor ihm die Straße. Er drückte mit voller Wucht auf die Bremse, doch die Straßenglätte war zu stark. Die Scheinwerfer warfen ihr Licht auf eines der Tiere, welches vom Auto erfasst wurde. Es knickte zusammen, wurde auf die Motorhaube geworfen und wie das Auto anhielt, rollte es herunter und brach auf dem Asphalt zusammen.

Sofort öffnete er die Tür, sprang heraus und sah sich um, doch das Tier war verschwunden. Weil er nichts sehen oder hören könnte, überprüfte er sein Auto. Der Motor war eingedrückt — ein Neuwagen. Er wollte gerade sein Telefon holen, da war die Tür plötzlich verschlossen, doch weder in der Hosen- noch in der Jackentasche konnte er seinen Schlüssel finden. Er rüttelte an der Tür. Nichts bewegte sich. Da erhielt er einen Anruf auf seinem Telefon. Alles was er hörte, war seine Kündigung.

Völlig durchnässt stand der Mann vor seinem Auto, schrie vor Wut und trat gegen den Reifen, als er ausrutschte und sich auf dem Straßenbelag den Kopf aufschlug. Er blickte in den wolkenbedeckten Himmel. Weder Mond noch Stern waren zu sehen, nur die großen Regentropfen, in denen er lag. Er dachte an seine wartende Familie, also stütze er sich auf, blickte noch einmal auf sein Auto und machte sich auf den Weg nach Hause.

Nach einigen Schritten drehte er sich um. Der Nebel hatte das Fahrzeug verschluckt. Er müsste jetzt auf der Höhe des Friedhofs sein, sagte er sich, als er die Waldausfahrt auf der linken Seite sah. Das Zauntor stand offen und in der Ferne sah er menschliche Gestalten auf der Straße, die sich auf das Tor zubewegten. Als sie näher kamen, erkannte er den Müller, dessen Frau und ihre zwei Söhne, seinen Nachbarn und viele weitere. Sie hielten jeweils Koffer in den Händen. So lief der Mann den anderen Menschen hinterher.

 

Am Friedhof angekommen war er noch erstaunter. Jeder aus dem Dorf schien da zu sein. Unter den Menschen erkannte er den Bürgermeister, die Apothekerin und den Elektriker, der letzte Woche seinen Kühlschrank repariert hatte. Warum seien alle an einem so scheußlichen Ort versammelt, fragte er sich. Die Menschen zwängten sich durch das Eingangstor und stellten sich dann in einer Schlange auf.

Die Gräber um ihn herum waren erst vor kurzem zugeschüttet worden und auf den Kreuzen erkannte er einige Namen wieder: Freunde, Nachbarn, ehemalige Schulkameraden.

Wie er sich den Regen aus dem Gesicht wischen wollte, hielt er plötzlich seinen Koffer in der Hand. Schockiert ließ er ihn fallen. Beim Aufschlag öffnete er sich: Geld, Bankkarte, seine Uhr, Grundstücksurkunde, Schlüssel, Telefon. Alles, wofür er sein Leben lang gearbeitet hatte, lag nun in diesem Koffer.

Ehe er verstehen konnte, stand er vor einem leeren Grab, dahinter ein Haufen aus Koffern, neben ihm seine Frau und seine Kinder. Hand in Hand trat seine Familie vor und warf sich hinein. Fassungslos stand er da und sah zu, wie Fremde und Bekannte es ihnen gleichtaten, bis nur noch er da stand.

Im Büro

Im Büro

Es war zwar erst früh am Morgen, doch im Büro herrschte die alltägliche Hetze. Die Asienabteilung war gerade mit ihrer Schicht durch. Ich sah einem Mann hinterher, der mir in der Türschwelle entgegengekommen war. Er war abgeschwitzt, doch konnte man ihm das Schmunzeln ansehen. Ein anderer jedoch saß noch in seinem Stuhl, ungläubig starrte er durch den Raum, der Bildschirm vor ihm. Auch er wischte sich Schweiß von der Stirn. Offensichtlich hatte er eine schlechtere Nacht erlebt. Langsam erhob er sich, zog das Sakko über das Hemd und verließ den Raum. Der Monitor, auf den alle Arbeitsplätze ausgerichtet waren, schaltete um. Kaum hatte sich jeder hingesetzt, stand auch schon unser Manager im Raum, hielt seine gewöhnliche Rede und wünschte uns viel Erfolg. Als er verschwand, widmete ich mich meinem Computer und dem Telefon. Der Betrieb wurde aufgenommen.

Der Morgen verlief wie die letzten Monate, seit ich den neuen Job aufgenommen hatte. Eingehender Anruf, schwankender Kurswert, ausgehender Anruf, Nachricht von meiner Frau. Heute schob sich ein Anruf vom Handwerker dazwischen, der einen Termin für die kaputte Waschmaschine ausmachen wollte. Mittagspause am Imbissstand um die Ecke, ein Kaffee, ein Sandwich, heute mal mit einer anderen Sauce. Vom Stehtisch aus sah ich den Geschäftsführer in sein Chauffeur-Auto einsteigen. Was er wohl jetzt machen würde? Geschäftstermin, Firmenübernahme oder doch eher eine Runde Golf mit Menschen, deren Garagen größer waren als unser Büro.

Erneut musste ich die letzten Bissen zurücklassen – die Pause war einfach zu kurz. Ich lief die Treppen zum Eingang hinauf, als mir ein alter Mann mit weißem, ungepflegtem Bart auffiel, der vor der Tür stand. Ich umkurvte ihn, als ich seinen Geruch wahrnahm und die Nase zuhalten musste. In der Eingangshalle holte ich tief Luft, passierte die Rezeption und ging zum Fahrstuhl. Beim Zurückblicken sah ich, wie der Mann ebenfalls die Tür durchquert hatte und gerade von der Security gestellt wurde. Die Menschen blieben stehen, um dabei zuzusehen, wie der Mann aus dem Gebäude geschickt wurde. Er wehrte sich nicht. Er hob seinen Kopf, als würde er das Hochhaus, in dem unsere Firma saß, begutachten. Einige riefen dem Mann hinterher, er solle verschwinden, er hätte hier nichts zu suchen. Auf der Treppe machten alle einen großen Bogen um ihn herum. Die Anzugträger waren alle angewidert von den ungepflegten Klamotten des Mannes. Es schien, als würde er den Ruf der Firma mit seiner bloßen Anwesenheit beschmutzen.

An einem Morgen der nächsten Tage nahm ich denselben Weg mit dem Bus und der Bahn zur Arbeit. Wie immer begegnete ich vielen Menschen. Ich fühlte mich immer wichtig in meinem Anzug und mit dem Aktenkoffer. Doch als ich heute die letzte Kreuzung hinter mir hatte, bot sich mir ein nie dagewesener Anblick. Die Treppe zur Eingangshalle war gefüllt mit Menschen, unter denen ich viele Mitarbeiter erkannte. Die Masse wurde mit der Zeit größer und die Zeit verging. Es war schon kurz vor Öffnung der Börse, als der Geschäftsführer das Wort übernahm. Kurz und knapp teilte er uns mit, dass jegliche Mietverträge gekündigt wurden. Die Bänker wurden plötzlich laut, fragten, was jetzt passiere, was man tun würde, was mit ihrer Bezahlung wäre und wer dafür verantwortlich sei. Antworten gab es keine. Da wurde das Gedränge groß und die Leute fingen an zu schreien. Die Security leitete den Geschäftsführer und hochranginge Manager aus der Menge.

Wie hilflose Hühner, deren Kopf man abgeschlagen hatte, rannten die Bänker durch die Gegend. Die Presse stand bereits auf dem Bürgersteig. Einige wenige blieben, einige führten hitzige Telefonate, andere gingen nach Hause. Ich setzte mich auf der anderen Straßenseite in das Haltestellenhäuschen. Das Getümmel wurde weniger und zwischen den verbliebenen Bänkern erkannte ich plötzlich den alten Mann, der die Treppen hinaufstieg und direkt auf den Eingangsbereich zuging. Ich hielt ihn für einen Idioten, doch das änderte sich in dem Moment, als er einen Schlüsselbund aus dem dreckigen Mantel holte und die Tür zum Gebäude öffnete.

Eine Geschichte über das Sehen

Obwohl man doch meinen könnte, dass die Begriffe Sehkraft und Weitsicht gleichbedeutend seien, haben sie wenig miteinander zu tun. Ein Mensch mit Augen, scharf wie die eines Falken, möge zwar Objekte besser erkennen können in der Entfernung, doch bezeichnet dies nicht wirklich, wie weit er tatsächlich sehen kann.

Es sind nämlich Fantasie und Vorstellungskraft, welche sich hinter dem Begriff Weitsicht verstecken. Jener genannte Mensch wird zwar die physische Umgebung besser erkennen, doch kann er sie ohne Fantasie und Vorstellungskraft nicht wahrnehmen, geschweige denn weiter blicken, als seine Augen gerade sehen.

So sitzen eines sonnigen Tages zwei Wanderer zufällig auf der gleichen Bank am Rande eines Waldweges. Vor ihnen liegt ein Städtchen. Es liegt in einem tiefen Tal, umgeben von einer Hügelkette. Auf einem dieser Hügel befinden sich die Wanderer. In der Ferne ragen Kirchtürme fremder Dörfer und Städte in den Himmel.

Obwohl beide gleich gut sehen können, widmen sie ihre Blicke unterschiedlichen Dingen zu. Der eine starrt hinab in das Tal, denkt darüber nach, ob er sich denn das große Häuschen in der Altstadt leisten könne und interessiert sich gar nicht für die Natur darüber hinaus. Der andere hingegen würdigt dem Städtchen keine Sekunde, sondern genießt die frische Luft, das Zwitschern der Vögel und das Pfeifen des Windes zwischen den Wäldern und Wiesen, die sich bis weit hinter den Horizont erstrecken. Er schließt gelegentlich die Augen, vergisst die Zeit und denkt an die Erzählungen seiner Mutter und seines Vaters, in denen sie das Altbekannte hinter sich gelassen haben und stattdessen um die Welt gezogen sind. Für ihn gibt es zu viel auf dieser Welt, das er noch sehen will.

Die Zeit vergeht und da merkt er, dass der andere schon längst gegangen ist. Er steht auf, nimmt Stock und Hut, kehrt dem Städtchen den Rücken zu und setzt die Reise fort.

Tropfen auf dem Fenster
Der fremde Junge

Der fremde Junge

Sie hatte ihn vorher noch nie gesehen. Er musste neu sein, dachte sie sich. Sie war gerade aus dem Bus ausgestiegen und wollte die Straße überqueren, da hatte sie einen Jungen in ihrem Alter auf das Schulhaus zusteuern sehen. Die Kleidung verriet, dass er nicht mit den Schulregeln vertraut war. Sie blieb stehen, als sie ihm hinterherstarrte. Ihre Freundin holte sie ins Leben zurück: „Wer ist da?“.

Im Klassenzimmer angekommen, sah sie, dass er vor ihr saß. Beim Vorbeigehen blickte er ihr in die Augen und sie wurde rot. Den restlichen Tag jedoch drehte er sich nicht mehr um. Sie hatte schon wieder alle Hoffnungen aufgegeben, als er sich nach dem Klingeln erhob, sich zu ihr wendete und sie fragte, ob sie mit ihm kommen wollte. Er streckte seine Hand aus. Sie zögerte kurz, griff dann aber zu. Hand in Hand liefen sie aus der Schule, überquerten die Straße und verließen irgendwann die Stadt.

Umso weiter sie sich von ihrem Zuhause entfernte, desto mehr geriet sie in einen Zwiespalt. Sie kannte diesen Jungen gerade mal seit heute Morgen, doch vertraute sie ihm mehr als jedem anderen.

Zusammen erklommen sie einen Hügel nach dem anderen. Hinter diesen fanden sie eine unendlich scheinende Blumenwiese, auf der eine kleine Hütte stand. Er lief direkt darauf zu, doch sie blieb stehen. Die Zweifel waren zu groß. Als könnte er ihre Gedanken lesen, nickte er ihr zu, öffnete die Tür und verschwand für immer.

Die Stimme des Jungen ertönte in ihrem Kopf: „Komme, wenn du bereit bist.“

Wanderweg
Eine Geschichte über das Sehen
Ungewisse ehnsucht

Ungewisse Sehnsucht

Sie lebten verschiedene Leben. Trotzdem verband sie eines: Sie beide sehnten sich jeweils nach dem anderen.

Er war ein Junge aus der Stadt, sie ein Mädchen vom Dorf. Jeden Tag zur selben Uhrzeit saßen sie am Fenster und warteten aufeinander. Dann starrten sie beide in den Himmel und wünschten sich, zusammen zu sein. Sie redeten miteinander oft stundenlang und streckten die Arme aus, so fest sie konnten und beinahe berührten sich ihre Hände, als sie erkannten, dass sie wieder nur träumten.

Gestern war er länger geblieben, heute sie und immer, wenn der eine ging, verabschiedete er sich. Dann blieb der andere und träumte alleine weiter.

Doch sie wurden älter und der Alltag verschlang die Zeit. Es wurde seltener, dass sie beide kamen und erzählten. Sie konnten spüren, wenn der andere nicht da war, bis sie sich eines Tages schließlich vergessen hatten.

So verliefen die Jahre. Sie hatten es beide mit anderen versucht, doch konnte sie keiner so gut verstehen wie sie beide einander verstanden hatten. Eines Tages saß sie in einem Restaurant, gelangweilt von ihrem Gegenüber, während er im Café auf der anderen Straßenseite saß und es ihm nicht anders erging. Sie beide sahen hinaus, zum blauen Himmel – und auf die andere Straßenseite, als sich ihre Blicke kreuzten.

Sie hatten einander noch nie zuvor gesehen, doch erkannten sie sich sofort.

Image by Nathan Dumlao
latte machiato der weisheit

Latte Macchiato der Weisheit

Viele Autos, hin und wieder ein LKW, ein Polizeiauto, ein Krankenwagen mit Sirene, jede halbe Stunde ein Bus, alle 10 Minuten eine Straßenbahn, Containerschiffe, Ruderboote und hoch am Himmel gelegentlich ein Flugzeug, das Richtung Westen flog.

Normalerweise verschwendete ich keine Minute, darüber nachzudenken, was morgens um mich herum geschah. Hauptsache, die Ampel wurde grün – perfekt. Gerade als ich an der Kreuzung ankam, schlug sie um und ich überquerte die Straße.

Nicht zu spät kommen! Also joggte ich die letzten einhundert Meter bis zur Tür, da stand ich vor einem dunklen Gebäude. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich blickte mich um, überlegte, welcher Tag es war, als es mir einfiel: Zeitumstellung. Ich ärgerte mich, musste aber über mich lachen und lief ziellos durch die Straßen. Nochmal nach Hause wäre unnötig gewesen, also suchte ich eine Bäckerei, bis ich vor einem Café haltmachte, das ich bisher noch nie gesehen hatte: Café der Weisheit – was für ein Name! Meine Neugierde drängte mich hinein und ich bestellte einen Latte Macchiato – nicht schlecht. Ich lief zum Flussufer und setzte mich auf eine Bank, den Becher fest umklammert.

Ein Vertriebstechniker für Schiebetüren, eine Oberärztin, ein Anwalt für Erbrecht, eine Mutter auf dem Weg zum Kindergarten, um die Kleinen abzugeben, ein Lehrer, eine Marketing Managerin – sie alle hatten so unterschiedliche, doch auf ihre Weise interessante und wundervolle Geschichten, die sich mir nur beim kurzen Hinterherblicken zutrugen, während sie vor meinen Augen vorbeifuhren. Der Schiffskapitän, der von Genua bis Shanghai schon alles gesehen hatte, der Co-Pilot auf seinem ersten transatlantischen Flug, der Busfahrer, der trotz Rentenalters immer noch fuhr, weil er in seinem Beruf seine Berufung sah – sie alle waren Individuen mit einer eigenen Seele, eigenen Gedanken und eigenen Problemen.

Wollte der Anwalt doch eigentlich nie Jurist werden, hatte der Lehrer immer davon geträumt, Schauspieler zu sein. Das Kinderkriegen hatte nie für die Oberärztin funktioniert, während die Mutter, die gerade auf dem Weg zum Kindergarten war, unfreiwillig Kinder bekam. Der Kapitän liebte die See mehr als die Familie, der Co-Pilot wusste noch nicht, dass er an diesem Tag seine zukünftige Frau treffen würde.

Kaum eines dieser Schicksale war vergleichbar. Jede kleinste Entscheidung war verantwortlich dafür gewesen, wo sie heute standen. Jede individuelle Geschichte hätte ein ganzes Regal mit Büchern füllen können und ich konnte sie für diesen Moment lesen.

 

Als ich den letzten Schluck genommen hatte, spürte ich, wie langsam jene Geschichten wieder verschwammen und ich nur noch die Autos, nicht mehr die Menschen sehen konnte.

Image by Almos Bechtold
Wünsche

Wünsche

Ich wünsche mir Abenteuer, ich wünsche mir Alternativen, ich wünsche mir Abwechslung. Es soll etwas geschehen, dass sich wie eine Tür anfühlt, hinter der sich ein neuer Weg erschließt. Ein unvorhersehbarer Weg. Dieses Ereignis soll so sein, als würde mein Kleiderschrank zu einem Tor werden, das mich in ein fremdes Königreich führt, als würde mir jemand sagen, dass ich der Auserwählte sei, der die Galaxis retten wird, als würde mich ein Zauberer beauftragen, den einen Ring zu vernichten, als würde ich einen Brief von einer magischen Schule erhalten, als würde mich ein verrückter Pirat anheuern, um einem Geisterschiff nachzujagen, als würde mich ein Italiener mit auf seine Reisen durch ganz Asien nehmen oder als würde ich mit einem Wissenschaftler in 80 Tagen um die Welt reisen.

Doch mit jedem vergangenen Tag verliere ein bisschen mehr die Hoffnung, eines dieser Schicksale zu erleiden. Denn dann schaue ich nach rechts und nach links, sehe dieselben weißen Wände wie gestern und merke, dass jeder Tag der gleiche ist.

Wo bleibt also der Polarexpress, der mich mitten in der Nacht mitnimmt, wo der Prinz, der mich aus meinem Turm befreit, wo der Teufel, der mir die Lüste des Lebens näherbringt?

Was einst nur Hoffnung war, ist nun Verlangen und Sehnsucht.

Der Taximann

Der Taximann

Wissen ist Macht, wird oft gesagt, deshalb teilt man es nicht. Ein Grundsatz, der in allen Bevölkerungsschichten gilt. Wissen basiert auf Informationen. Wer als erstes diese Informationen hat, hat die Chance, sie so effektiv einzusetzen, um sich selbst zu bereichern, anderen zu schaden oder auch beides zugleich.

Insiderinformationen. So nennt man Informationen, die nur wenigen Menschen zugänglich und allen anderen vorbehalten sind. Diese Informationen werden gehandelt. Diese Informationen werden gekauft und verkauft.

Das ist der Anfang der Geschichte eines Mannes, der sich seinen Beruf zu Nutzen machte, um eben jene Informationen zu gewinnen. Er war nicht reich, er hatte keine Kontakte zu wichtigen Menschen, er war nicht auffällig. Im Gegenteil: er war so unauffällig, dass man ihm die Informationen frei heraus gab, wenn er fragte. Warum? Weil ihn niemand ernst nahm.

Wenn er die Informationen hatte, ging er zu den Leuten, die sie nicht haben durften, aber wollten. So verdiente er manchmal an einer Information mehr als seinen Monatslohn. Die wichtigen Menschen erkannten das Potenzial und schlugen sich darum, ihn für sich zu gewinnen. Doch der Mann war schlau und sagte jedem zu. Er spielte die wichtigen Leute gegeneinander aus, doch auch sie glaubten nicht, dass ein Mann wie er dazu in der Lage war.

Es vergingen Jahre und immer wieder ging einer seiner Arbeitsgeber pleite oder musste hohe Strafen zahlen für den Handel mit Insider-Informationen, aber er wurde nie geschnappt, denn auch der Staat hielt es nicht für möglich, dass ein Mann wie er kriminell sein könnte.

Niemand kannte seinen echten, nur seinen Decknamen: der Taximann.

Sonnenuntergang und Palmen
Sommerabend

Sommerabend

Wo bist du nur? Du warmer, langer Sommerabend, an dem ich mich wieder frei fühlen kann. Ich brauche dich, denn die Trägheit raubt mir den Verstand. Der kalte Winter hat mich ins Innere gedrängt und zur Einsamkeit verwiesen. Ich brauche die Hoffnung, die du mir spendest, wenn ich bis spät in die Nacht auf der Wiese liege, dem Ort, an welchem die Wurzeln meines Lebens liegen. Schon beim ersten Mal wurde mir bewusst, dass die Atmosphäre, die du an jenem Tag erzeugtest, mein Herz erfüllte. So sehne ich mich Jahr für Jahr nach dir, doch im Laufe der Zeit und im Angesicht des Älterwerdens wird die Sehnsucht stärker. Du bist es, lieber Sommerabend, der mir die Jugend zurückgibt, mich wieder wie ein Kleinkind ohne Sorgen fühlen lässt.

Nun sitze ich hier, seufzend, und starre hinaus. Der Regen peitscht gegen das Fenster, der Himmel ist grau und mir ist kalt. Doch ich weiß, dass du dich irgendwo dahinter verbirgst und wiederkommst, wenn es so weit ist.

Whisky servieren
Der ugewöhnliche Fremde

Der ungewöhnliche Fremde

Freitagabend. Eine weitere lange Woche Arbeit ging zu Ende. Wie gewöhnlich füllte sich meine Stammgaststätte – es war zugleich die einzige im Ort – mit müden Gesichtern. Jeder wollte sich den Schmerz aus der Seele trinken, die Arbeit für den Abend vergessen und sich an den banalen Gesprächen mit Freund und Nachbarn erfreuen.

Jeder hier kannte sich und so fiel es mir auf, dass sich ein Unbekannter der Bar näherte. Er war schlecht gekleidet, doch sein Gang war stilvoll. Ich beobachtete, wie er mit dem Wirt ein paar Worte wechselte und sich dann zum Tisch mir gegenüber setzte. Er kramte eine Zeitung aus seiner Tasche und las.

Das war sehr ungewöhnlich. Die meisten hier hatten noch nie eine Zeitung in der Hand gehalten, geschweige denn eine ausländische, so wie sie der Mann vor sich liegen hatte. Das hatte ich beim Gang auf die Toilette sehen können und dadurch weckte er mein Interesse. Ich beendete mein Glas und winkte dem Wirt zu. Woher jener kam, wollte ich wissen, doch der Wirt schüttelte den Kopf. Also stand ich auf und setzte mich zum Fremden. Er blickte hoch, musterte mich kurz und streckte mir seine Hand entgegen. Ungewöhnlich hier, doch ich schüttelte sie höflich.

Es dauerte nicht lange, da hatten wir einander vorgestellt und waren schon bald in einem lebhaften Gespräch versunken. Er fragte mich, woher ich kam, was ich tat, wohin ich wollte. Ich musste ihn enttäuschen, denn über Dinge dieser Art hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. So fragte ich ihn und er begann zu erzählen. Was bei einer Geschichte über seine Schulzeit anfing, entwickelte sich zu einer Geschichte über seine Erlebnisse, seine Reisen, seine Taten, seine Tugenden und Weisheiten. Ein Mann, der gelebt hat, dachte ich mir.

Ich stellte Fragen, er antwortete. Er war gütig, weder eitel noch selbstgefällig. So verging Stunde um Stunde, ein neues Glas ersetzte das alte und wir saßen und lachten. Zwischen uns lagen viele Jahre, doch wir verstanden uns wie Vater und Sohn. Andere hatten sich inzwischen dazugesetzt und auch zugehört, gefragt und auch ihnen antwortete der Fremde. Eine noch nie dagewesene Lebensfreude füllte den Raum. Die Menschen waren begeistert von den Geschichten, die der Fremde zu erzählen hatte. Die Orte, von denen er erzählte, klangen so weit entfernt, von der anderen Seite der Welt, fern von der Trübseligkeit unseres kleinen Städtchens. Keiner wollte gehen, niemand wollte etwas verpassen. Irgendwann saßen alle in einem großen Halbkreis um uns herum, mittendrin der Wirt, den es nicht mehr hinter der Theke gehalten hatte. Man sah den Menschen an, wie ihre Augen nun aufleuchteten, wie jeder von der weiten, großen Welt träumte, die er noch nicht gesehen hatte.

Nach vielen Stunden stand der Fremde auf und es wurde still. Er bedankte sich bei allen, nahm seine Tasche und trat durch die Tür. Die Gäste starrten verdutzt hinterher. Ich sprang auf, lief durch die Tür und blickte dem Fremden hinterher. Ohne sich umzudrehen, ging er weiter, bis das Schwarz der Nacht seine Silhouette vollständig am Horizont verschluckt hatte.

Obwohl viele lange warteten und hofften; der Fremde kam nie wieder. Von ihm blieben nur die Geschichten.

Image by Jeison Higuita
Auf der andere

Auf der anderen Seite

Eine letzte Umarmung, eine letzte Träne, ein letztes „Auf Wiedersehen“.

                         

Ich blickte zum Bahnsteig. Meine Freundin stand da, verwurzelt, unsicher. Was würde sie jetzt ohne mich tun? Ich wusste es nicht. Ich habe ihr meinen Plan erst gestern offenbart, sie hatte noch keine Zeit nachzudenken.

Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte langsam aus den Bahnhof. Die Menschen öffneten die Fenster und winkten ihren Liebsten zu. Für einige war es der tägliche Weg zur Arbeit, für andere ein kurzer Urlaub, doch nicht für mich.

 

Ich dachte an meine Eltern, wie sie gerade aufwachten, nach mir riefen und mich nicht finden konnten, nur den weißen Umschlag, den ich hinterlassen hatte. Ich hatte weinen müssen und kaum Worte herausgebracht.

 

Sie hatten nichts gemerkt, weder wie ich meinen Koffer gepackt hatte, noch wie ich heute Nacht aus der Tür geschlichen war.

 

Nun saß ich hier, auf dem Weg in ein Leben, das ich mir nur vorstellen konnte. Mein Liebster musste schon auf mich warten, weit weg, im Westen, auf der anderen Seite.              

Brille auf Buch
Meine Geschichte

Meine Geschichte

Eine Geschichte, so inspirierend, so schön. Eine Geschichte, die mich erfüllt, mich einnimmt und zu allem wird, was ich brauche. Eine Liebesgeschichte, ein Abenteuer, eine Karriere. Welches Schicksal mich auch trifft, es soll geschichtsträchtig sein. Ein Leben, das sich unterscheidet, das einfach anders ist. Von dem ich erzählen kann, das auch anderen in Erinnerung bleibt, das niedergeschrieben wird. Der Gedanke, dass mein Leben zu einer Geschichte wird, soll eine Inspiration für mich sein, dem Weg zu folgen, den ich mir so wünsche, auch wenn ich an Kreuzungen gelange, an denen sich mein Weg von denen meiner Liebsten trennt.

Eine Angst, so groß, so schmerzend. Was, wenn ich die Kraft nicht habe, den einen Weg zu gehen? Was, wenn ich es nicht auf den Gipfel schaffe, so, wie ich es mir für mich selbst wünsche? Ein Leben, das sich nicht unterscheidet, nicht anders ist, weil mir die Kraft gefehlt hat. Der Gedanke, fliegen zu wollen, obwohl meine Füße auf dem Boden bleiben, bereitet mir Angst und lässt mich daran zweifeln, ob es sich lohnt, so weit gehen zu wollen.

Meine Hoffnung: die Realität, die mir zeigt, dass ich es schon so weit geschafft, geliebt und gelebt habe. Sie zeigt mir, dass mein Leben bereits eine Geschichte für sich selbst ist. Auch wenn sie noch nicht niedergeschrieben ist, könnte sie ein Buch füllen. Und sie wäre es wert, gelesen zu werden. Sie mag zwar keine Geschichte für die Ewigkeit sein, doch bleibt sie mir, solange ich lebe und sobald sie von nur einer anderen Person geteilt wird, weiß ich, dass ich nicht den perfekten, aber den richtigen Weg gegangen bin.

Wie ein vkehrter Tequila

Wie ein verkehrter Tequila Sunrise

Ein letzter Schluck, dann stehe ich auf. Während ich die engen Gassen zu meinem Hotel entlanglaufe und zwischen den alten, farbenfrohen, mediterranen Häusern schlendere, schweift mein Blick über die Köpfe der Menschen hinweg zu den Bergen, über die sich die stufenförmigen Weinhänge ausdehnen, und von dort zum Meer, in dem sich die Sonne spiegelt. Ein Moment, in dem sich die Natur von ihrer schönsten Seite zeigt.

Ich bin ein Reisender ohne festen Wohnsitz, niemals länger als 3 Monate an derselben Stelle, doch komme ich gerne dorthin zurück, wo es mir am besten gefallen hat. Ich reise allein, nie zu zweit und das schon immer. Es ist das Leben, das mich erfüllt, dieses Leben.

Es wird spät und ich erreiche noch vor Sonnenuntergang ein kleines Städtchen. Ich suche ein Hotel, etwas abseits – wie immer. Das Navi bringt mich auf eine Serpentinenstraße, die den Berg hinaufführt. Von oben blicke ich auf die Küste. Die Sonne wird schon langsam rot und der Himmel färbt sich. Ich laufe auf die Terrasse – ich möchte keine Sekunden verpassen. Es läuft Musik, langsam und gefühlvoll. Dazu eine sanfte Brise des Meeres, die sich auf mein Gesicht legt. Ein perfekter Moment. Es sind nur die lauten, taktlosen Geräusche der Pärchen, die nur den Blick für einander und nicht für die atemberaubende Schöne dieser Szene haben. Wie ein Gemälde, kräftig, doch so friedlich. Ich trete zur Mauer und schaue in die Ferne. Das Naturschauspiel ist mehr als ein Kuss. Es ist alles. Wie ein – „Wie ein verkehrter Tequila Sunrise, finden Sie nicht auch?“

Image by Laura Ockel
maschine im la

Die Maschine im Lauf der Zeit

Es dreht und dreht und dreht sich. Immer weiter – unaufhörlich. Eine große Maschine, angetrieben von vielen Millionen Zahnrädern. Die Einzelnen werden Teil des Ganzen und das Ganze trägt die Einzelnen. Eine universelle Funktionsweise, der hier und jetzt niemand entkommen kann, da es außer der Maschine nichts gibt. Ohne Zeit ist sie stetig und verändert sich nicht.

Wer nicht genug Kraft hat, um sich zu drehen, wird ersetzt. Die Maschine funktioniert nur, wenn sich alle drehen. Weil niemand ersetzt werden will, drehen sich alle. Ganz einfach. Vereinzelt schaffen es welche, sich auf dem Rest auszuruhen, ohne dass es die Maschine bemerkt. Oder bemerkt es die Maschine, doch tut nichts, weil es so gewollt ist, dass sich vereinzelt welche ausruhen? Von denen, die für die Ruhenden mehr Kraft aufwenden müssen, versucht keiner es den Ruhenden gleichzutun. Sie haben Angst, ersetzt zu werden, da die Maschine vielleicht nicht will, dass sie sich auch ausruhen.

Die Maschine ist friedlich, sie ist schön, sie ist alles. Nach diesem Motto arbeiten die Zahnräder. Für dieses Motto existiert die Maschine und existieren ihre Einzelteile.

Addiert man zu der Gesamtheit einen neuen Faktor, nämlich die Zeit, würde man jedoch schnell erkennen, dass die Maschine nichts dergleichen ist. Sie ist ein System, auf den Mauern der Leichtgläubigkeit ihrer Antriebsquellen errichtet, zerbrechlich und anfällig. Es reicht, wenn nur ein Zahnrad genügend Kraft entwickelt, um die Richtung zu wechseln und alle angrenzenden Zahnräder mitzuziehen. Es würde zu einem Machtkampf zwischen dem Ganzen und einer Gruppe seiner Bestandteile kommen. Ein Krieg, ein Kräftemessen, das die Maschine niemals unbeschadet überstehen kann. In ihrer Gesamtheit würde die Maschine selbst bei einem Sieg über die Aufsässigen nicht zu ihrem Ursprung zurückkehren, denn die Narben wären vorhanden, so wie auch das Ersetzen alter oder fehlerhaften Teile nie in Vergessenheit geraten wird.

Es ist nämlich der Lauf der Zeit, der Erinnerung und Geschichte entstehen lässt. Die Zeit sorgt dafür, dass sich innerhalb der Maschine Einzelteile weiterentwickeln, frei und unabhängig. Sie beginnen, Erfahrungen aus der Geschichte für Innovation und Ideen zu nutzen, bis sie sich von dem alten System der Maschine lösen und ihr eigenes etablieren. Es entstehen Aufklärung, Bildung und schließlich Widerstand, welcher sich gegen das alte System wendet. Solange, bis das alte System abgeschafft oder nur noch eines von vielen ist, mit den neuen um die Vorherrschaft der Maschine ringend.

Image by Raph Howald
Das schicsal und sein wille

Das Schicksal und sein Wille

Heute, vor genau 70 Jahren, trafen sich zum ersten Mal unsere Blicke.

Es war Mittagspause. Die Cafeteria war voll und laut, die anderen saßen in großen Gruppen und jeder versuchte den anderen zu übertreffen: Medaillen, Siege, Meisterschaften. Trainingslager – die Besten der Besten. Sie kamen von überall her – Asien, Amerika, Afrika, Europa – und alle waren nur für einen Zweck gekommen: zum Besten zu werden.

Umso irrsinniger kommt es mir vor, dass ich ausgerechnet dort auf ihn gestoßen bin. Normalerweise war ich fokussiert und vergaß die Umgebung. Das war die Strategie: auf mich schauen, nicht auf andere.

Ich war zwar noch jung, doch die anderen kannten bereits meinen Namen. Sie fürchteten mich, deshalb gingen sie mir aus dem Weg, verachteten mich, wollten nichts mit mir zu tun haben. Das war mir egal, es war mir immer egal – bis zu diesem Tag.

Er war gegen den Tisch gestoßen, deshalb schaute ich auf. Versteinert sahen wir uns an. Wir sprachen nicht – wir dachten nicht – wir starrten nur. Was war nur in diesem Moment aus dem Mädchen geworden, das immer einen Plan hatte und auf jede Situation vorbereitet war? Er hatte mich verunsichert. Ich war ihm ausgeliefert, doch ihm ging es genauso. So hielt der Moment an, ein ewiger Moment, unser Moment.

Es war Liebe auf den ersten Blick, doch sie war auf Trümmern erbaut. Das Schicksal wollte sie nicht, es hatte andere Pläne für uns.

Bald schon trennte es unsere Wege, denn es schenkte uns andere Menschen, Partner und Freunde, doch es konnte nicht verhindern, dass wir uns begegneten, wo auch immer wir hingingen. Wenn wir uns sahen, fanden wir wieder zu unseren Gefühlen, errichteten die Mauern neu. Das Schicksal versuchte mit aller Kraft, sie einzureißen. Schließlich siegte es über die Liebe – eine starke Liebe. Wir taten alles, doch wir konnten nicht zusammen sein. Wenn ich jedoch eines konnte, dann war es, niemals aufzugeben. Und so, viele Jahre später, versuchen wir noch immer der Zukunft zu trotzen, die für uns vorherbestimmt ist, und werden es auf ewig weiter tun.

Carpenters Werkzeuge
Entscheid und Macher

Entscheider und Macher

Herr Muts Großeltern waren Entscheider. Besonders die Eltern seines Vaters hatten diesem vorgeschrieben, was er tun sollte. Der Vater tat es auch, da er Angst davor hatte, was passieren würde, sollte er nicht den Eltern gehorchen. So wollte er nach der Schule studieren, doch sein Vater, der selbst nicht studiert hatte, verbat ihm zu studieren. Die Narbe blieb, selbst als die Eltern gestorben waren. Herr Muts Vater tat, was dessen Vater von ihm wollen würde. Er hatte nichts selbst entschieden. Die Stimme seines Vaters kreiste um ihn herum und verfolgte ihn auf Schritt und Tritt.

Herr Muts Eltern waren ebenfalls Entscheider. Wenn Herr Mut sich etwas vornahm, kritisierten sie es. Sie schrieben ihm vor, was er zu tun hatte.

Herr Mut jedoch war ein Macher. Wenn er sich etwas vornahm, dann tat er es. Er tat, was ihn interessierte und was ihm guttat.

Als Herr Mut jung war und die Schule abgeschlossen hatte, wollte er studieren, doch sein Vater, der selbst nie studiert hatte, verbat ihm zu studieren. Doch Herr Mut war nicht wie sein Vater. Er tat, was er tun wollte.

Die Wochen bis zur Abreise verliefen, wie Herr Mut es vorausgesehen hatte. Sein Vater sprach nicht mit ihm, sondern schrie und beschimpfte ihn.

Als der Tag des Abschieds gekommen war, Herr Mut mit den Koffern bereitstand und ein letztes Mal zurückschaute, stand sein Vater an der Tür. Er weinte und nickte.

Image by Georg Eiermann
Mittag auf dem Markt

Mittag auf dem Markt

Der Kirchturm läutete. Es war Mittag auf dem Markt und die Hölle war los. Alte Bauern verkauften ihre Waren, junge Mägde kauften sie. Inmitten der Menge: der Herr Beamte. Aufgeplustert stolzierte er zwischen den Ständen hindurch, machte jedoch nie Halt und blickte hochnäsig über die Menge hinweg.

Die Menschen machten Platz und hier und da tuschelten die jungen Damen, aus welchem Grund der Herr Beamte denn auf dem Marktplatz erschienen war. Die Magd des Herrn Stadtrat erzählte, dass der Herr Beamte eine Beförderung erhalten und sich sofort das neu erbaute Haus im Zentrum unter den Nagel gerissen hatte. Es hatte einen kleinen Garten und ein Gemüsebeet. Der Herr Beamte sagte nämlich über sich selbst, er sei ein begabter Gärtner.

Jeder nickte dem Herrn Beamten ehrwürdig zu. Sie zollten den nötigen Respekt – dem Herrn Beamten und der Hierarchie.

Der Herr Beamte dagegen, wenn er sich dann Mal zu der niedergestellten Gesellschaftsklasse gesellte, empfand kein Mitleid und zollte ihnen keinen Respekt. Die Beförderung schien dem Herrn Beamten zu schnell in den Kopf gestiegen zu sein: Eine Magd, die ihn übersehen und seinen Weg gekreuzt hatte, stolperte und fiel zu Boden. Die Äpfel aus ihrem Korb rollten über den Pflasterstein. Der Herr Beamte schrie sie an und zertrat jeden Apfel, den er finden konnte. Schließlich spuckte er auf die Magd und ging fort.

Da fiel der Herr Beamte plötzlich um. In seinem Rücken ein Messer. Regungslos lag sein Körper auf dem Boden, darüber ein Bauer: der Vater der Magd.

Der Kirchturm läutete. Es war Mittag auf dem Markt.

Image by Craig  Whitehead
Nachtagent

Nachtagent

Nacht. Abruptes Bremsen. Türen auf. Ausstieg. Loslaufen. Kurz umschauen. Blickkontakt. Schnelles Umdrehen. Geschwindigkeit erhöhen. Straße überqueren. Ein langer Schatten an den Häuserwänden. Nicht meiner. Abbiegen. Allein. Aufatmen. Geschwindigkeit verringern. Wieder abbiegen. Ein Mann. Abstand halten. Geht schneller. Dreht sich um. Blickkontakt. Schnelles Umdrehen. Zigarettenautomat. Bleibt stehen. Nervosität. Laufe vorbei. Blickkontakt. Gehe schneller. Drehe mich um. Mann hinter mir. Keine Zigaretten in der Hand. Läuft hinterher. Defekte Laterne. Dunkelheit. Überquere Straße. Kein Auto, niemand, nur Mann. Nicht mehr weit. Laufe langsamer. Rote Ampel. Bleibe stehen. Mann läuft weiter. Blickkontakt. Grün. Laufe weiter. Mein langer Schatten an den Häuserwänden. Weißes Licht. Laden. Bleibt stehen. Langer Blickkontakt. Laufe vorbei. Biege ab. Hole Schlüssel raus. Warte. Schaue mich um. Mann. Blickkontakt. Bereit.

Dreht sich weg. Geht. Tür auf. Zuhause.

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